Ein Mensch schaut dich an. Für einen kurzen Moment seht ihr euch in die Augen. Du siehst seine Welt.
1871. Der Krieg stellt Abraham Kahns Leben auf den Kopf. Als er zehn Jahre alt ist, verliert er seine Heimat, seine Freunde, fast seine ganze Familie und seine Muttersprache.
Die Kahns müssen das Elsass verlassen. Sie ziehen nach Paris, wo sie sich ein neues Leben aufbauen. Von nun an sprechen sie Französisch – nicht mehr Deutsch. Abraham wird sogar in Albert umbenannt, weil dies französischer klingt.
Den Krieg, das beschließt der Junge damals, will er mit allen Mitteln verhindern.
Aber wie kann man den Frieden erhalten? Nur, indem sich die Menschen sehr gut kennenlernen. So gut, dass sie sich in die Welt des anderen hineinversetzen können, um sich gegenseitig besser zu verstehen.
Als Albert Kahn durch Spekulationen mit Gold und Diamanten viele Milliarden verdient, stiftet er ein Reisestipendium. Junge Männer – und junge Frauen! – dürfen auf seine Kosten nach Asien, Afrika oder Amerika reisen. Für einige Monate leben sie gemeinsam mit Menschen aus einem anderen Volk. Wenn sie heimkommen, sind sie wie verwandelt. Weltoffener. Weniger anfällig für Vorurteile und Feindbilder.
Doch es sind immer nur eine Handvoll junger Menschen, denen Albert Kahn diese Reisen finanzieren kann. Wenn es nur machbar wäre, diese friedensstiftende Erfahrung mit vielen Leuten zu teilen. Wenn es gelänge, einen kurzen Einblick in die Welt eines fremden Menschen bereitzustellen, damit man ihn oder sie besser versteht … und sei es nur für einen Moment.
Eine brandneue Erfindung soll es möglich machen: die Photographie. Jemand zeigt Albert Kahn eines der damals hochmodernen Farbbilder, die ‚Autochrome‘ heißen. Mithilfe von feinen Pigmenten aus Kartoffelstärke bilden sie bunte, kräftige Farben ab. Sie sehen derart lebensecht aus, als stünde man direkt vor der fotografierten Person. Der Milliardär ist begeistert. Für seine Idee der Völkerverständigung möchte er farbige Bilder aus der ganzen Welt zusammentragen. Er stellt gleich ein ganzes Team von Photographen an.
* Auguste Léon photographiert ab 1909 für Kahn Menschen in Norwegen, Schweden, Italien, Albanien, in der Türkei und auf dem ganzen Balkan.
* Stéphane Passet bereist in Kahns Auftrag Marokko. Später wird er über Griechenland, die Türkei und China in die Mongolei und nach Indien reisen.
* Marguerite Mespoulet bereist gemeinsam mit der Mathematikerin Madeleine Mignon die irische Insel, wo sie Näherinnen, Fischer, Bauern und Kinder photographieren.
* Um Menschen aus fremden Völkern in ihrem Alltag abzubilden, reisen weitere Photographen für den Milliardär durch Ägypten, Algerien, Brasilien, Ceylon, China, Djibouti, Deutschland, Israel, Japan, Jordanien, Kambodscha, Kanada, die Mongolei, die Niederlande, Persien, Syrien, die Vereinigten Staaten von Amerika und Vietnam.
Der „Herr der Bilder“ bleibt in seiner Villa bei Paris. In seinen prachtvollen Gärten empfängt Albert Kahn Politiker und Diplomaten, Könige und Kaiserinnen. Wenn seine Photo-Experten heimkehren, entwickeln sie ihre Negative, übergeben Kahn die Autochrome und erzählen von den Menschen, die sie unterwegs getroffen haben.
Nach und nach entsteht ein ARCHIV DES PLANETEN mit Bildern aus aller Welt:
72.000 farbige Autochrom-Aufnahmen.
4.000 Schwarz-Weiß-Photographien.
Über 120 Stunden mit seltenen Filmaufnahmen.
Von 1914 bis 1918 herrscht in Europa Krieg. Albert Kahns neues Heimatland Frankreich liefert sich mit seiner alten Heimat, dem Deutschen Reich, einen blutigen Stellungskrieg. Davon unbeirrt schickt Kahn weitere Photographen in alle Teile der Erde.
In den 1920er Jahren finanziert er erneut zahlreiche Reisen. Seine Photographen überschüttet er dabei mit Bergen von Autochrom-Platten und sündhaft teuren Filmrollen.
Doch über Nacht wird sein Geld plötzlich wertlos. Der Börsencrash von 1929 ruiniert den Bankier. Kahn verliert seine Milliarden, sein Bankhaus in Paris, seine Ländereien, sein Haus an der Küste von Cornwall, seine beiden anderen Ferienhäuser mit Meerblick. Die französische Verwaltung kauft sein Haus bei Paris, in dem er seit über 40 Jahren lebt, und lässt ihn weiter darin wohnen.
Seine Photographen muss Kahn alle entlassen. Doch Auguste Léon bleibt seinem Gönner treu. Er war der erste Photograph Kahns, nun ist er der letzte an seiner Seite. Ohne Gehalt arbeitet Léon weiter, sortiert die unzähligen Negative, entwickelt Bilder, katalogisiert, beschriftet, ordnet unermüdlich. Später wird der französische Staat die riesige Sammlung übernehmen. Im Jahr 1990 wird das MUSÉE ALBERT KAHN eröffnen, welches die Photographien bis heute aufbewahrt.
Es bleiben offene Fragen. Wieso wurden Abertausende von Negativen zu Kahns Lebzeiten nicht entwickelt? Wieso wurde nur ein kleiner Prozentsatz in Kahns Debattierclubs und in der Runde ausgewählter Gäste gezeigt? Wieso nur eine Handvoll in NATIONAL GEOGRAPHIC veröffentlicht?
Trotzdem ist Albert Kahn bis zu seinem Tod im Jahr 1940 davon überzeugt: Mit seinen farbigen Bildern von Menschen aus aller Welt konnte er Verständnis für andere Völker wecken und Vorurteile bekämpfen.
Kahns unermüdlicher Einsatz für den Frieden stellt auch Fragen an uns. Wie setzen wir heute moderne Technik, neue Kommunikationsmethoden wie Social Media ein? Um andere Menschen besser zu verstehen?
Wenn wir Kahns farbige Bilder betrachten, blicken uns Menschen entgegen, die schon lange tot sind. Wir sehen diese Menschen in ihrer Welt. Wir sehen ihnen in die Augen. Und es gibt einen kurzen Moment, in dem wir sie verstehen.
Das „Archiv des Planeten“ – eine ganz besondere Sammlung und eine ganz besondere Mission.
Text von Barbara Fischer. Dieser Artikel war in der Top 30-Auswahl beim LOTTO Kunst-Preis des Landes Rheinland-Pfalz 2022.
Alle Photos Stéphane Passet im Auftrag von Albert Kahn.